Aufruf zur Palastrevolution – (Grundsatz-) Urteil des AG Kerpen zur Rechtsprechung des BGH zu den sog. Stundenverrechnungssätzen (Az.: 104 C 294/11)

Nachdem gerade im Bereich des Verkehrszivilrechts die entscheidenden Grenzfragen im Haftungssystem der §§ 249 ff. BGB letztverbindlich durch den Bundesgerichtshof geklärt werden, ist es schlechterdings bemerkenswert, wenn sich ein einzelnes Amtsgericht bei einem Streitwert von gerade 200,00 EUR verpflichtet sieht, auf etwa 14 DIN4 Seiten die bereits gefestigte Rechtsprechung des BGH zu den sog. Stundenverrechungssätzen als „verfehlt“ und „falsch“ zu brandmarken und offen auf eine Änderung der Rechtsprechung drängt.

Umso erstaunlicher ist es jedoch, wenn der sorgfältig begründeten Entscheidung des Amtsgerichts in jedem einzelnen Punkt zuzustimmen ist.

Im Einzelnen:

Nach den – auch den Haftpflichtversicherungen – hinlänglich bekannten Urteilen des BGH (sog. VW-Urteil, Az.: VI ZR 91/09) soll dem Schädiger bei einem Fahrzeug, welches bereits länger als drei Jahre zum öffentlichen Verkehr zugelassen ist und nicht als „scheckheftgepflegt“ bezeichnet werden kann, der Einwand eröffnet sein, dass eine tatsächlich durchgeführte Reparatur zu günstigeren Konditionen erreicht werden könnte. Dazu muss der Schädiger (lediglich) nachweisen, dass die Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht.

Gegen eine derartige Gedankenfolge spricht nach Ansicht des Amtsgerichts jedoch folgendes:

1.

Die Grenzen eines derartigen Parteivortrags auch in Abgrenzung zur (unzulässigen) Ausforschung sind unklar. Muss dargetan werden, über welche Spezialwerkzeuge die jeweilige Werkstatt verfügt? Muss bewiesen werden, ob auch der Ausbildungstand mit der einer markengebundenen Fachwerkstatt mithalten kann?

Gerade dieser für den Ausgang des Rechtstreits erheblichen Frage wird von den Amtsgerichten keine genügende Aufmerksamkeit gewidmet. Aus eigener leidvoller Erfahrung wird dem erkennenden Gericht hier bereits der Nachweis genügen, dass Originalersatzteile Verwendung finden, Originalpläne des Fachhändlers zur Verfügung stehen und auf die Werkleistungen mindestens drei Jahre Garantie gegeben wird.

Wenn dann im weiteren Zusammenhang etwa darauf hingewiesen wird, das jeder Hersteller heutzutage über teilweise spezialisierte Fertigungsverfahren verfügt, die einen herstellerspezifischen Gerätepark erforderlich machen oder gar nur industriell ausgeführt werden können (Stichwort: Audi Aluminium Stützpunkte), wird dies als nicht entscheidungserheblich abgetan. Auch wenn der jeweilige Betrieb über die jeweiligen Herstellerangaben verfügt, bleibt darauf hinzuweisen, dass selbst eine ordentliche Arbeit etwa durch eine höhere Festigkeit an der Reparaturstelle im Crashfall zu einer erhöhten Verzögerung (Airbag- oder Gurtstrafferauslösung pp.) führen kann.

2.

Die eigentliche Problematik liegt jedoch in der weiteren Konsequenz, dass bei einer ordentlichen Mandatsbearbeitung die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich sein wird. Sollte das Gutachten entsprechend breit angelegt sein (Punkt 1 oben), ist damit zugleich klar, dass bei einer Restforderung bei Stundenverrechungssätzen von 100,00 EUR bis 200,00 EUR und einem sich daraus ergebenen Prozessrisiko von wenigstens 2.000,00 EUR bis 3.000,00 EUR nur dem rechtschutzversicherten Geschädigten ein derartiges Verfahren anzuraten ist. Der BGH muss sich daher die Frage gefallen lassen, ob sich ein „verständiger, wirtschaftlich denkender Fahrzeugeigentümer in dieser Weise verhalten würde.

3.

Schließlich führt auch die willkürlich gezogene Altersgrenze von drei Jahren zu einer „Zwei-Klassengesellschaft“ bei Fahrzeugreparaturen. Getreu dem Motto: Wer im Vorfeld nicht genügend Geld in sein Fahrzeug investiert, soll sich auch bei späteren Unfällen nicht so haben und sich mit einer preiswerten Reparatur zufrieden geben. Weiterhin unklar bleibt, was die Höhe der zur Schadensbeseitigung erforderlichen Reparaturkosten damit zu tun haben, ob das Fahrzeug zuvor scheckheftgepflegt war.

In rechtlicher Hinsicht kann im Rahmen einer fiktiven Abrechung im Prinzip der marktübliche Reparaturpreis verlangt werden. Nachdem der Geschädigte sein Fahrzeug überhaupt nicht reparieren lassen möchte, kann es somit auch nicht auf eine – hypothetisch – günstigere Reparaturmöglichkeit ankommen. Da der Geschädigte Herr des Restitutionsgeschehens ist, bleibt der Versicherung damit nur der Einwand, dass das Gutachten den üblicherweise erforderlichen Geldbetrag falsch darstellt. Über diese Beweisfrage – und nur über diese – wäre dann anschließend Beweis zu erheben.

Es bleibt daher zu hoffen, dass sich auch weitere Gerichte dieser im Ergebnis zutreffenden Meinung anschließen werden, damit das „Problem der Stundenverrechungssätze“ (ähnlich wie der Bereich der Mietwagenkosten) in Zukunft nicht mehr zu den pauschalen Verlustgeschäften eines Unfallgeschädigten gehört.

R. Weichelt

Rechtsanwalt